Zerstörte Illusionen
Nur das Leben selbst schreibt die wahren Geschichten    

Hier ein paar kurze Passagen aus dem Buch … 

1949

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war von den Siegermächten 1945 vereinbart worden, Berlin in vier Sektoren aufzuteilen. Margarete und Paul, meine Eltern, lebten in der Ostzone und lernten sich 1947 in einem Tanzlokal kennen. Mein Vater war siebzehn Jahre alt und kam aus der Gefangenschaft. Meine Mutter, ein Jahr älter, absolvierte ihr hauswirtschaftliches Pflichtjahr, so wie es damals für junge Mädchen üblich war. Ein Jahr später, im Juli 1948, hatten sie geheiratet.  Beide benötigten zu der Zeit noch die Genehmigung ihrer Eltern, weil man damals erst mit einundzwanzig Jahren volljährig war. Sie waren jung, sehr verliebt und lebenshungrig und sie genossen beide das Leben nach Kriegsende in vollen Zügen. Meine Eltern lebten anfangs zusammen mit der frisch geschiedenen Mutter meines Vaters in einer kleinen Wohnung in der sowjetischen Besatzungszone im Bezirk Friedrichshain. Wie man sich gut vorstellen kann, vertrugen sich Margarete und ihre Schwiegermutter, zwei charakterlich sehr unterschiedliche Frauen, nicht so gut und immer wieder gab es Spannungen wegen Kleinigkeiten. Doch eigener Wohnraum war nicht so einfach zu bekommen. Gut ein Jahr nach der Hochzeit meiner Eltern wurde ich im März 1949 im elterlichen Schlafzimmer in der Boxhagener Straße geboren. Damals war es eher selten im Krankenhaus zu entbinden, die meisten Geburten fanden zu Hause statt. Außer der Hebamme war noch meine Oma bei meiner Geburt dabei. Viele Jahre später erzählte sie mir einmal, dass sie während des Geburtsvorganges den Eindruck hatte, dass ich nicht auf diese Welt kommen wollte. Heute ist mir auch klar, warum. Spätestens nach meiner Geburt wurde den jungen Eltern bewusst, dass sie sich dringend nach eigenem Wohnraum umschauen mussten. Den fanden sie dann auch ein paar Straßen weiter in der Rigaer Straße. Damals eine ruhige Straße, mit vielen kleinen „Tante-Emma-Läden“, einigen Kneipen. Die Wohnung war nicht groß, bestand nur aus Wohnzimmer und Küche, die Toilette befand sich eine halbe Treppe tiefer. Endlich hatten sie ihr eigenes Reich. Im selben Jahr, am 7. Oktober, wurde auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik gegründet. 

Drei Jahre später, im Oktober 1952, kam mein Bruder Gerhard einen Monat zu früh auf die Welt. Auch er war eine Hausgeburt. Im Gegensatz zu meiner Geburt waren meine Eltern auf die Ankunft dieses zweiten Kindes so gar nicht vorbereitet. Nichts war für das Baby vorhanden. Die Hebamme wickelte das Neugeborene notdürftig in ein Handtuch und meine Oma wurde nun beauftragt, das Nötigste für das kleine Wesen zu besorgen. Wie ich viel später erfuhr, war mein Bruder kein Wunschkind. Meine Mutter hatte in den ersten Monaten einige abenteuerliche Versuche unternommen haben, um diese Schwangerschaft zu unterbrechen. Warum sie dieses Kind nicht wollte, haben wir nie erfahren. Nur meine Oma verbreitete hartnäckig das Gerücht, dass dieses Kind nicht von ihrem Sohn sein könne. Woher sie das zu wissen glaubte, blieb ebenfalls ihr Geheimnis. Aber der Stachel war zumindest bei meinem Vater gesetzt. Es gelang ihm dadurch nie, eine normale Vater-Sohn-Beziehung zu dem Jungen aufzubauen. Der Kleine war von Geburt an in seiner Entwicklung etwas zurück und blieb immer ein Sorgenkind.

Es gab jetzt leider immer häufiger Tage, an denen buchstäblich nichts zu essen im Haus war. Alle Bemühungen meiner Mutter etwas Geld zu kommen, waren dann an solch einem Tag im Sande verlaufen. Dabei war sie einfallsreich und geschickt, wenn es darum ging, Geld zu beschaffen. Mit einer ihrer ganz besonderen, schon fast kriminellen Methode, erzielte sie sogar Erfolg. Ihr Auftritt war immer gut vorbereitet und durchdacht.  

1982

Am 19. Mai 1982 erhielten wir eine schmerzliche Nachricht. Mein Bruder war gestorben. Er starb keines natürlichen Todes, an einer Krankheit oder durch einen Unfall, nein bewahre. So war das bei uns nicht. Es musste natürlich etwas Ungewöhnliches sein. Mein Bruder wurde ermordet. Mord – das passte in unsere chaotische Familie! Der Anruf meiner Mutter erreichte mich während meiner Arbeitszeit. Als ich die Nachricht hörte, war ich wie erstarrt. Von den Füßen bis zu den Schultern zog sich eine Mauer hoch. Nur mein Kopf blieb frei. Und der wehrte sich. Was erzählte sie mir da schon wieder? Ich ging sofort auf Abwehr. War das wieder ein neuer Trick meiner Mutter? Es erschien mir nicht glaubhaft, was sie da erzählte. Mord gab es nur im Kino. Das konnte, das musste ein Irrtum sein. Als wir später in der Gerichtsmedizin die Sachen meines Bruders in Empfang nahmen, war es klar, dass es kein Irrtum war.

2010 

Einige Monate später waren Sascha und Jason wieder auf dem Weg nach Deutschland. Nicht etwa aus Sehnsucht zu mir oder dem Rest unserer Familie. Nein, sie wollten Urlaub in Italien machen, waren sozusagen nur auf Durchreise, mit einem Zwischenstopp in Berlin. Egal, ich freute mich natürlich riesig auf den kurzen Besuch. Hauptsache, ich konnte ihn mal wiedersehen, ihn umarmen. Wie immer holte ich sie vom Flughafen ab und war in freudiger Erwartung, wir haben uns lange nicht gesehen. Von freudig konnte bei diesen beiden Herren allerdings keine Rede sein. War es der lange Flug, der Jetlag oder haben sie sich gerade gezofft? Schon von Weitem sah man beiden ihre äußerst gereizte Stimmung an. Aber nicht nur das allein, mein Sohn sah elend aus. Ich brachte vor Schreck kein Wort hervor. Kaum, dass wir uns kurz begrüßen konnten, gifteten sich die beiden hemmungslos und in meinem Beisein weiter an. Ein Glück für mich, dass sie auf Englisch stritten, denn somit blieb mir der größte Teil ihrer Diskussion zumindest inhaltlich verborgen. Sie waren auch nicht im Geringsten bereit, ihren Disput in meiner Gegenwart, und sei es nur aus Höflichkeit, pausieren zu lassen, geschweige denn zu beenden. Nein, das Gelaber ging weiter. Abgesehen von der nervigen Streiterei, wirkte Sascha auf mich sehr mitgenommen, mehr oder weniger genervt. Wie schon in den vergangenen Jahren sah er müde, abgespannt und krank aus. Seine Augen lagen tief in den Augenhöhlen, die Wangenknochen standen hervor. Diese müden Augen waren wie eh und je auf Jason fixiert. Mich schienen die beiden gar nicht wahrzunehmen, ich fungierte für sie nur als Chauffeur. Vorsichtige Fragen meinerseits wurden kurz und mürrisch beantwortet. Schließlich setzte ich die beiden nach der anstrengenden Fahrt vor ihrem Hotel erleichtert ab. Mit einem riesigen Kloß im Hals verabschiedete ich mich und machte mich enttäuscht auf den Weg nach Hause. Wir vereinbarten noch, dass wir uns am nächsten Tag treffen würden. Jetzt hoffte ich inbrünstig auf eine bessere Stimmung für den kommenden Tag.  Der Jetlag würde dann wohl überwunden sein, sie werden ausgeschlafen und vernünftig miteinander umgehen.  

Eines Tages sagte mir mein Gefühl, dass Sascha uns absichtlich meidet, er zeigte keinerlei Interesse. Weder an mir, noch an dem Rest unserer Familie. Warum verhielt er sich so? Gab es einen Grund? Wenn ja, welchen? Fühlte er sich von mir gedrängt, weil ich wegen der Jobsuche ein wenig Druck gemacht habe? Nahm er mir das übel? Das könnte ich verstehen, aber dafür hatte ich meine Gründe und hätte sie ihm erklären können. Sascha war seit seiner Rückkehr sehr labil, depressiv, ohne jegliche Initiative. Er war immer noch ohne Arbeit, lebte von Sozialhilfe und kümmerte sich, zumindest meiner Meinung nach, nicht genug um einen Job. Ich hatte Angst. Angst, dass er abrutschte und dann gar nicht mehr auf die Beine käme. Meine Argumente würde er sicher nicht verstehen, aber die Anzeichen kannte ich von meiner Mutter nur zu gut und wusste genau, wo die hinführen können. Wäre das ein Grund für ihn, mich zu meiden?   

2013

Auch im Jahr 2013 änderte sich nichts an dem distanzierten Verhältnis zwischen Sascha und mir. Es herrschte immer noch totale Funkstille. Kein Wort, kein Anruf, kein Brief. Nicht von ihm, aber auch nicht von mir. Nicht an Geburtstagen, nicht an Feiertagen. Ein trauriger, ein belastender Zustand. Zumindest war das mein Empfinden, ihm schien das wohl nichts auszumachen. Auch wenn ich sehr unter diesem Zustand litt, war ich immer nicht bereit, ihm auch nur einen Schritt entgegenzukommen. Nein, so konnte, so durfte er nicht mit mir umgehen. Die Schmerzgrenze war längst überschritten, viel zu oft habe ich eingerenkt, zurückgesteckt. Alles um den lieben Frieden willen. Vielleicht mag für manche Mutter diese Entscheidung unverständlich erscheinen. Schließlich war ich eine Mutter. Und eine Mutter gibt einfach immer nach! Immer und immer wieder. Von ihr erwartet man einfach, dass sie verzeiht, Schmerz aushält, sich demütigen lässt. Vielleicht mag das im Allgemeinen und bis zu einer gewissen Grenze auch so sein, aber er war auch ein Sohn. Kinder haben nicht nur Rechte, sondern auch ein paar Pflichten ihren Eltern gegenüber. Sascha aber lebte nur nach seiner Auffassung und in einer anderen sehr egoistischen Welt. Er kannte mir gegenüber keinerlei Verpflichtung, geschweige denn Achtung. 


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